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Sorge um das öffentliche Gesundheitswesen in Gaza

31 Juli 2006


Offener Brief kanadischer Mediziner vom 31. Juli

Als kanadische Mediziner sind wir zutiefst beunruhigt über das Schweigen der kanadischen Regierung und der kanadischen Medien über die humanitäre Katastrophe in Gaza. Wir rufen die kanadische Regierung und die Medien dazu auf, von der humanitären Situation wahrheitsgetreu Notiz zu nehmen und mit Mitgefühl und effektiver Hilfe zu antworten.

Schon vor der Gefangennahme von Korporal Gilad Shalit am 25. Juni und schon vor der Wahl der Hamas-Regierung war die humanitäre Situation in Gaza schrecklich.

Als die Siedler Gaza im August 2005 verliessen, liess die israelische Armee das ganze von ihnen besetzte Land mit Millionen Tonnen Schutt bedeckt und damit für die Bewirtschaftung unbrauchbar zurück. Israel kontrollierte weiterhin den Zugang nach Gaza und kontrollierte weiterhin die Ressourcen an Wasser.

Nach der Wahl der Hamas-Regierung brach das palästinensische Gesundheitswesen zusammen, weil Israel die Steuereinnahmen einfror und weil die internationale Hilfe (angeführt von Kanada) eingestellt wurde.
Ärzte für Menschenrechte Israel (Physicians for Human Rights – Israel, PHR-I) berichteten damals, dass Israel für die Folgen des Zusammenbruchs für die palästinensische Zivilgesellschaft im allgemeinen und das Gesundheitswesen im speziellen verantwortlich sei. Das Shifa-Spital, das Zentrumsspital in Gaza, habe, so PHR-I, (für mindestens einen Monat) nicht die nötigen Medikamente erhalten, die es für die Grundversorgung brauche, so wie Furosemid (ein wassertreibendes Medikament, das bewirkt, dass gestautes Wasser in den Lungen und in anderen Organen ausgeschieden wird) und Erythromycin (ein Breitspektrumantibiotikum). Im Shifa-Spital starben bereits 4 Patienten, weil die Anzahl ihrer Dialysebehandlungen von 3 auf nur 2 pro Woche reduziert werden musste. James Wolfensohn, Sondergesandter für Disengagement des US-Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten, erklärte am 15. März, dass der Zusammenbruch der Gesundheitsdienste und des Erziehungssystems, wovon eine Million Kinder betroffen sind, ein vollständiges Versagen für die neue Regierung sein und tragische Folgen für das palästinensische Volk haben würde. Das sollte unter keinen Umständen zugelassen werden.

Sechs Monate vor der Gefangennahme von Korporal Gilad Shalit reichte PHR-I vor dem israelischen Höchsten Gerichtshof eine Petition und ein Gesuch ein, damit dieser die zeitweilige Einstellung von Überschallknallen verfüge, welche als kollektive Strafe für die Zivilbevölkerung erachtet werde, die besonders Kinder traumatisiere. Die Petition wurde zurückgewiesen, und die Überschallknalle gehen weiter. Nach dem Guardian Weekly (Nr. 16 vom 22. Juni) war das tägliche Leben gewaltsam: 3000 Qassam-Raketen wurden während der vergangenen fünf Jahre von Gaza aus nach Israel gefeuert und töteten fünf Menschen; andererseits warf Israel seit Anfang April 6000 Granaten auf Gaza, die das Leben von älteren Bauern, Kindern und Frauen sowie der Familie von Huda Ghalia am Strand von Gaza forderten; es werden keine Zahlen über die israelischen Bodenangriffe während derselben Fünfjahresperiode angegeben. Jedoch meldet MSF USA (Médicin sans frontières) am 8. Juni, dass die israelischen Bombenangriffe in Nordgaza besonders heftig waren. Bei einem Ereignis wurden 45 Kühe getötet, was die Versorgung mit Nahrungsmitteln beeinträchtigte. MSF führt weiter aus, dass das Bombardement seit Beginn des Jahres im Norden so heftig gewesen sei, dass die Menschen keine Einrichtungen des Gesundheitswesens in Anspruch nehmen konnten. Aussergerichtliche Exekutionen und Entführungen durch die israelische Armee (IDF) dauerten fort; am Tage vor der Gefangennahme von Korporal Shalit entführte die israelische Armee einen Arzt aus Gaza und seinen Bruder.

Vor der jetzigen Offensive gaben Mitarbeiter von UN-Hilfsprogrammen tägliche Essensrationen an 735 000 Menschen in Gaza ab, mehr als der Hälfte der Bevölkerung von 1,4 Millionen Menschen in dem überbevölkerten Gebiet. 79% der Haushalte lebten unter der Armutsgrenze, die Arbeitslosigkeit lag bei 40% (Bericht des UN-Sekretariats für die Koordinierung von humanitären Angelegenheiten vom 12. Juli).

Seit der Gefangennahme von Korporal Shalit ist die Situation in Gaza wegen der Zerstörung der Infrastruktur für die Bereitstellung von Wasser, sanitären Einrichtungen, Nahrung, Gesundheit und Elektrizität weitaus schlimmer.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO berichtet am 8. Juli, dass sich das öffentliche Gesundheitswesen einer beispiellosen Krise gegenübersieht. Obwohl die Spitäler und 50% der Einrichtungen der medizinischen Erstversorgung Generatoren haben, schätzt die WHO, dass der derzeitige Vorrat an Treibstoff für maximal zwei Wochen reichen wird. Gestützt auf Daten der UNRWA über Infektionskrankheiten meldete die WHO, dass die Gesamtzahl an Fällen wässriger und blutiger Durchfallerkrankungen unter Flüchtlingen während der letzten Juni- und der ersten Juliwoche im Vergleich mit derselben Periode im Vorjahr um 163% bzw. 140% zugenommen habe (s.a. Bericht der Defense for Children International – Palestine Section). Die WHO schätzt, dass innert eines Monats 23% der unerlässlichen Medikamente nicht mehr vorrätig sein werden. Die WHO ist auch alarmiert darüber, dass Patienten, die Gaza für eine Behandlung verlassen müssen, verschärften Einschränkungen unterworfen sind.

Das Welternährungsprogramm (World Food Programm, WFP) schätzt, dass bereits im Juni 70% der Bevölkerung in Gaza nicht mehr in der Lage waren, ihren täglichen Bedarf an Nahrungsmitteln ohne Hilfe abzudecken. Am 8. Juli hat WFP 20 Tage an Notvorräten an Nahrungsmitteln, um die Fallzahl von 220 000 abzudecken. Angesichts der eskalierenden Krise gibt es immer mehr Menschen, die jetzt Hilfe benötigen. WFP glaubt, dass es unentbehrlich ist, dass ein humanitärer Korridor für Hilfe und Personal offenbleibt, damit eine weitere Verschlechterung der Nahrungsmittelsicherheit in dieser kritischen Zeit verhindert werden kann.

Unicef berichtet, dass die Kinder in einer Umgebung aussergewöhnlicher Gewalt, Unsicherheit und Angst leben. Pflegekräfte geben an, dass Kinder wegen des Beschusses und der Überschallknalle Anzeichen von Verzweiflung und Erschöpfung zeigen, einschliesslich einer 15- bis 20%igen Zunahme an Fällen von Bettnässen.

Das Sekretariat für die Koordinierung von humanitären Angelegenheiten (Office of the Coordination of Humanitarian Affairs, OCHA) stellt fest, dass sich das Leben von 1,4 Millionen Menschen, fast die Hälfte davon Kinder, seit der Zerstörung des Elektrizitätskraftwerks über Nacht verschlechtert hat. In der heissesten Zeit des Jahres haben die Bewohner von Gaza nur 6 bis 8 Stunden am Tag Strom. In den städtischen Gebieten ist Wasser nur während 2 bis 3 Stunden pro Tag verfügbar. Die Wasserbehörde hat Chlor für 2 Monate. UNRWA berichtet, dass der tägliche Betrieb der Wasserdienste um zwei Drittel vermindert wurde, was zu Wasserknappheit und einer kritischen Situation in den Kläranlagen führt.

Am 19. Juli berichtet das Palästinensische Zentrum für Menschenrechte (Palestinian Human Rights Centre), dass seit dem 28. Juni 115 Menschen, meist Zivilisten, in Gaza getötet wurden, 550 wurden verwundet, der Zugang an Nahrungsmitteln, Treibstoff und medizinischer Versorgung wird verweigert, sechs Brücken wurden zerstört, der Transport und Zugang zu medizinischen Kliniken ist unterbrochen.

Gemäss den Bestimmungen der Genfer Konvention (1977) trägt der kriegsführende Staat die Last, die Zivilbevölkerung vor den Auswirkungen von militärischen Handlungen zu schützen. Als Besatzungsmacht muss der Staat Israel, gebunden an die Artikel 19 und 50 der IV. Genfer Konvention Verwundete und Kranke in Gaza human behandeln, Spitäler schützen, Kinder schützen und sich um sie sorgen. Artikel 55 hält fest, dass die Besetzungsmacht die Pflicht hat, die Versorgung an Nahrungsmitteln und an Medizin der Bevölkerung sicherzustellen. Artikel 56 hält fest, dass die Besetzungsmacht die Pflicht hat, in Zusammenarbeit mit den nationalen lokalen Behörden, die medizinischen Dienste und Spitäler, die öffentliche Gesundheit und Hygiene sicherzustellen und aufrechtzuerhalten. Die Vereinigung für Bürgerrechte in Israel (Association for Civil Rights) und die Ärzte für Menschenrechte – Israel (Physicians for Human Rights) verlangen von Israel die sofortige Einhaltung der Genfer Konventionen und den Wiederaufbau der Infrastruktur in Gaza.

Die unterzeichnenden kanadischen Mediziner fürchten um das Leben der palästinensischen Menschen. Wir fordern von der kanadischen Regierung, dass sie von Israel verlangt, dass es seine Verantwortung als Unterzeichner der VI. Genfer Konvention erfüllt sowie sofortige und effektive Massnahmen für den Schutz der palästinensischen Bevölkerung in Gaza für eine Verminderung schwerer Risiken der öffentlichen Gesundheit und für die Sicherung einer angemessenen medizinischen Versorgung ergreift. Wir fordern von unserer eigenen Regierung die sofortige Wiederaufnahme der kanadischen Hilfe an die palästinensische Regierung, um sicherzustellen, dass Wasser, Nahrung, Medizin und die Bedürfnisse des täglichen Lebens in Gaza unverzüglich verfügbar und zugänglich sind.

Unterzeichnet (bis 31. Juli 2006):
Elia Abi-Jaoude, M.D.; Saadia Ahmad MSW RSW M.Ed; Michael Allen, M.D.; Federico Allodi, M.D.; Zalman Amit, Ph.D.; Maria Applewhite, R.N., M.P.H.; Neil Arya, M.D., ehemaliger Präsident Ärzte für globales Überleben (Physicians for Global Survival),; Rand Askalan, Ph.D., M.D.; George A. Awad, M.D.; Ahmed Bayoymi, M.D.; Warren Bell, BA MD CM CCFP, ehemaliger Präsident Ärzte für globales Überleben (Physicians for Global Survival); Saleha Bismilla, Acting Family Home Visitor supervisor; Gary Bloch, M.D.; Irene Bond, R.N.; Stephen Connell, M.D.; Andrea A. Cortinois, MPH, PH.D. Zentrum für Internationale Gesundheit Universität Toronto (Centre for International Health University of Toronto); Minella De Souza, MBBS, FRCPC; James Deutsch, M.D., Ph.D.; Judith Deutsch, M.S.W., R.S.W.; Dale Dewar, M.D., CCFP, FCFP; Irfan Dhalla, M.D.; Farzana Doctor, M.S.W.; Paul Duchastel, M.D., ehemaliger Präsident Vereinigung der französischsprachigen Ärzte Kanadas (Past President of Association des Medecins de Langue Francaise du Canada); A.F. Elzawi, M.D. Kardiologe; Vivien Fellegi, M.D.; Jane Finlay-Young, praktischer Arzt; Sarah Freke, M.D.; Maha Gabarin, O.D.; Sharon Gazeley, M.D.; Miriam Garfinkle, M.D.; Qais Ghanem, M.D.; R.F. Gindi, M.D.; Louis Girard, M.D.; Dr. Frank Guttman; Dr. Herta Guttman; Ted Haines, M.D.; Paul Hamel, Ph.D. Medizinische Fakultät der Universität Toronto & Präsident Wissenschaft für den Frieden (Science for Peace); Kathy Hardill, RNEC Pflegefachfrau; Fred Harris, M.D.; Sameh Hassan, M.D.; Raed Hawa, M.Sc., M.D.; D.J. Hill, M.D.; Hanna Hinnawi, M.D.; Debbie Honickman, M.D.; Paul Hwang, M.D.; Seema Khan, M.D.; Haresh Kirpalani, M.D., Professor für Neonatale Medizin, McMaster Universität; Tara Kiran, M.D.; Peggy Lathwell, M.D.; Mark Leith, M.D.; Abby Lippman, Ph.D.; Christie Maccalum, M.D.; Harriet MacMillan, M.D.; Roy Male, M.D.; Debra Mandel, M.Ed., Psychotherapeutin; Vashti Mascoll, Pflegefachfrau; Gabor Mate, M.D.; Alison Miculan, M.D.; Lois Milne, Optometrist; Basem Naser, M.D.; Nancy Olivieri, M.D.; Mario Ostrowski, M.D.; Reem Abdul Qadir, M.S.W. R.S.W.; Clare Pain, M.D.; Michael Potter, M.A. Medizinische Ethik; Elizabeth Pringle, M.D.; Jane Pritchard, M.D.; F. Rabie, M.D.; Meb Rashid, M.D., CCFP; Guillaume Rouselet, Ph.D. Neurowissenschaftler; Manuel Rozental, M.D.; Nasri J. Sami, MB, FRCSC Chefarzt Neurochirurgie; Mounir Samy, M.D. Assoc. Professor für Psychiatrie, McGill; Joanna Santa Barbara, M.D. ehemaliger Präsident Ärzte für globales Überleben (Physicians for Global Survival); Eshrat Sayani, M.D.; Fred Schloessinger, M.A. Psychotherapeut; Gihad Shabib, M.D., Ass. Professor Gynäkologie/Geburtshilfe Ottawa Universität; Nayana Somaiah, MBBS, CCFP; Christina Stonehouse, R.N.E.C. Pflegefachfrau; Jim Sugiyama, M.D.; Tanya Suvendrini Lena, M.D., MPH; Teresa Tran, M.D.; Wahida Valiante, M.S.W.; Cheryl Wagner, M.D.; Scott Weinstein, R.N.; Judith Weisman, Psychotherapeutin; Gordon Yanchyshyn, M.D.; Tanya Zakrison, M.D. Chief Senior Resident University Health Network


See also:
English version (July 31, 2006)
Update: Humanitarian Situation in the Occupied Territories, Lebanon and Israel (August 16, 2006)
The Middle East Conflict - Resources for peace, justice, and human rights

 




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